Ich will so sein, wie ich bin. Uneingeschränkt? Gibt es Grenzen?

Reden wir vom potenziellen Konflikt zwischen Freiheit und Respekt.

Warum die Freiheit nicht heißen muss, andere zu nerven.

Es folgt eine Provokation zum Nachdenken. Die Inspiration, diesen Artikel zu schreiben, kam mir vor ein paar Wochen, von einem Beitrag in LinkedIn. Die These war in etwa folgende: Ich mache was ich will, ich ziehe mich an wie ich will, ich folge nicht mehr den Regeln, die andere vorgeben, sondern nur meinen eigenen. Das hat mir sofort sympathische Gefühle vermittelt und zum Teil Erinnerungen geweckt, aber nur zum Teil.

Ja, es ist wunderbar, sich entscheiden zu können, ob nach einem Prozess der Bewusstseinsbildung, oder mit einer plötzlichen Eingebung eines Morgens beim Aufwachen, sein Leben zu verändern. Warum tue ich das, was mir eigentlich gar nicht gefällt, oder nur zum Teil? Warum muss ich immer so formell angezogen ins Büro gehen, ich trage doch viel lieber Jogging Hosen und lustige Farben? Ich möchte, wenn ich zu einem Abendessen gehe, nicht einen Dunkelblauen Anzug mit Krawatte tragen, nur weil der „Kleider-Knigge“ bzw. der Dresscode, das vorsieht. Sollen die anderen Langweiler das doch tun, ich gehe in Jeans und offenem Hemd hin. Die anderen kennen mich schon und wissen, dass ich nun ein Freidenker bin. Und wenn alle mühsam über politisch korrekte Themen lamentieren, möchte ich so frei sein, zu sagen was ich denke, und zwar immer! Nächstes Mal sage ich einfach, was ich gerade auf der Seele habe, das mit den Politikern, der Einwanderungsthematik, Beziehungs-Themen oder religiösen Ansichten. Wir leben in einer Demokratie und dürfen sagen, was wir wollen, oder komme ich etwa dafür in den Knast?

Lieber „Freidenker“, Du hast sicherlich Recht: „Die Gedanken sind frei“, so titelt ein Lied, welches zum ersten Mal 1780 auf Flugblättern erschien und 30 bis 40 Jahre später eine Melodie dazu erhielt. Das ist richtig. Die Gedanken müssen frei sein, immer. Ich denke da an eine liebe Person, die in der damaligen DDR das Lied auf dem Schulhof sang. Die DDR-Diktatur fand das natürlich nicht berauschend. Aber die Sängerin hatte Mut und Würde! Hut ab, ich bin davon beeindruckt, wirklich sehr. Davon schreibe ich jetzt aber nicht, sondern vom potentiellen Konflikt zweier Freiheiten: Die von einer Person versus die anderer Menschen. 

Nun gehen wir von den Gedanken, die erstmal unsichtbar sind, hin zum Sichtbaren, zum Tun:

Der Paradiesvogel auf der Hochzeit.

Ich gehe zu einer Hochzeit, das wichtigste Fest des Brautpaares und deren Familien und eine wunderbare Gelegenheit für die Gäste (und das Brautpaar), elegant und schön „aufzutreten“. (Fast) alle geben sich Mühe und erscheinen gepflegt, elegant und gutaussehend zur Feier. Nur ich, der ja frei ist und tut was er will, zieht sein erbsengrünes Sakko an und seine hellgrauen Lederschuhe, mit „lustigem“ Hawaii-Hemd, mit Papageien und Palmen in fünf Farben. Und da es sehr warm ist, packe ich meine „Jesuslatschen“ aus (ist alles schon passiert). Wie Lustig, und wie frei. Wie geht es dem Brautpaar dabei? Ihr wichtigster Tag, und alle gucken auf mich, dem freien Mann. Und was empfinden die Eltern, die Jahre lang auf diesen Moment gewartet haben, dass ihre Tochter oder der Sohn heiratet. Wie geht es dabei den Gästen, die sich „in Schale“ geschmissen haben, vielleicht dafür auch Geld ausgegeben haben, um korrekt zu erscheinen und den Gastgebern*innen gegenüber Respekt zu erweisen.

Wenn meine Freiheit die Freiheit anderer, ihr Wohlbefinden, ihre Freude in Gefahr bringt.

Das ist der Punkt, den ich unterstreichen möchte: Meine Freiheit ist absolut wichtig und ok, sofern sie nicht für andere eine Belastung wird. Banal, oder? Ist aber so! Warum „muss“ ich akzeptieren, dass jemand an meinem Tisch Gespräche beginnt, die vielen Anwesenden unangenehm ist? Warum muss ich dulden, dass mich jemand duzt, ohne dass ich das Gleiche will?  Ist es in Ordnung, dass jemand mir immer sagt, was er/sie denkt, auch wenn dabei meine Grenzen überschritten werden. Die Aussage: „Ich bin so und sage, was ich denke“, ist sicherlich oft ganz ok, manchmal aber eben nicht. Während ich das schreibe, fällt mir meine Gesellschaftskundelehrerin ein, die uns vor vielen Jahren den Satz: „Die Freiheit des einen endet da, wo die des anderen beginnt“ beigebracht hat. Genau Frau W., sie haben absolut Recht, das sehe ich genauso. Ich möchte nicht schlechte Erziehung auf Teufel komm raus dulden, weil jemand sich ja so frei fühlt. Ich mag es nicht unbedingt zu akzeptieren, wenn mir jemand beim Essen mit offenem Mund seine halb zerkauten Fleischstücke präsentiert, dass mir schlecht wird. Ich verzichte gerne darauf, am Büffet eines Hotels behaarte Achselhöhlen und vergilbte Fußnägel in Flip-Flops sehen zu müssen. Ich entschuldige mich für diese bildlichen Beschreibungen, die den Zweck haben sollen, Emotionen plastisch darzustellen.

Die guten Manieren, der richtige Umgang mit Menschen, mit dem Ziel, andere zu respektieren und sie wohlfühlen zu lassen, muss, nach meiner Ansicht nach, gekoppelt sein mit dem eigenen Wohlbefinden. Nicht jedoch einseitig zu meinen Gunsten. Gute Manieren, Etikette, Bon Ton, Knigge, kann man erlernen und können helfen, ein gutes Miteinander zu schaffen, ohne Authentizität zu verlieren, ohne andere zu kränken.

Mehr Altruismus, kein Egozentrismus und Egoismus.

Mein Fazit: Ja, auf jeden Fall den eigenen Träumen und Wünschen folgen und das tun, was einem auf der Seele liegt, aber unter Berücksichtigung der Freiheit der Mitmenschen. Ein gutes Maß an Altruismus (nicht übertreiben), ein klares Nein dem Egozentrismus und dem Egoismus. Dann, so glaube ich, würden alle besser miteinander leben.